#31 Den Esel von hinten aufzäumen

Wie wir von mehreren Bekanntschaften unterwegs nun schon erfahren haben, soll der Weg über das Hintertürchen nach Stockholm der wesentlich Schönere sein. Das Hintertürchen stellt in diesem spezialgelagerten Sonderfall der Mälaren-See dar. Der „Mälaren“, wie er von Insidern nur genannt wird, reiht sich nach Vänern und Vättern auf dem dritten Platz der größten Seen Schwedens ein. Man schleust in Södertalje hinein und in Stockholm wieder heraus. Das war unser Plan, verwegen wie wir waren.

Am Morgen des besagten Geschehens wollen wir die zweite Schleusung um 9 Uhr nehmen. Kurz vor neun rufen wir beim Schleusenmeister an, der wirkt, als wäre heute die erste Tasse Kaffee bei ihm verschütt gegangen. Als ich ihm unser Anliegen erläutere, nämlich in den Mälaren schleusen zu wollen (wie gesagt, um 9 Uhr), sagt er erstmal dass das nicht ginge. Die Schleusung um neun fällt aus. Okay, sage ich, kein Problem, wir nehmen dann die um 10 Uhr (wir hatten gehört und gelesen, dass die Schleusungen immer zur vollen Stunde stattfinden sollten). Jau jau, sagt er, das ist gut. Fast schon meinen Finger auf den roten Auflegebutton meines zerkratzten Smartphone-Bildschirms pflanzend, vernehme ich, wie er anscheinend zur Besinnung kommt: Halt stopp! Doch nicht! Die Schleusung um 10 Uhr fällt auch aus, höre ich ihn krächzen. No problem, ist meine Antwort, wann können wir denn dann durch? Um elf, hustet er. Davor müsse ein großes Schiff geschleust werden, da passen keine Sportboote mehr mit. Schön, dann verlängern wir unser Frühstück um zwei weitere Stunden. Es drängt nicht bei uns. Heute nicht, gestern auch nicht, und morgen schon gar nicht. Ein paar Boote haben anscheinend nicht zum Telefonhörer gegrabscht, und drehen in Erwartung eines „Sesam-öffne-dich“-Momentes vor dem Schleusentor ihre Runden. Die Stimmung ist gespannt. Die Uhr tickt: 8:55… 9:00… 9:05… 9:10… Es passiert: nichts! Nach und nach sickert es wohl durch, und die Leitungen dampfen. Es hilft alles nichts, außer anlegen und warten 🙂

Dann ist es soweit. Kurz vor elf legen auch wir ab und stürzen uns ins Getümmel. Die Tore öffnen sich, alle schießen los.

Wir befinden uns im Zentrum des Bootspulks. Der ganze Pulk ist von einem eiligen Geist besetzt… Der ganze? Nein! Ein von unbeugsamen Kielern bevölkertes Boot hört nicht auf, dieser Eile Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die eiligen Segler, die als Besatzung nun mit Anlegen an der Schleusenwand beschäftigt sind.

Ave!

Rein in die Schleuse! Ilvy lässt sich bitten, und gleitet elegant mit erhobenem Haupt als Letzte in die Schleusenkammer.

Nachdem wir also als letztes Boot gemütlich in die Schleuse getuckert und kaum längsseits gegangen sind, schließen sich schon die Tore hinter uns. Und huch, sofort gehen die Tore vorne wieder auf. Na, das war ja mal ne kurze Schleusung. Wir legen ab und werden schnell von den eiligeren unter uns weit hinter sich gelassen. Na wartet nur, bis wir unser Sauseblitz-Segel hochgezogen haben. Doch es sollte noch etwas dauern bis dahin. Zu viele Brücken und Engstellen im Weg – und ein Schild, was Segeln auf diesem Teilstück ausdrücklich verbietet. Ups.

Da kommen wir ohne Angstschweiß durch.

Wir wollen eigentlich losfliegen, wie immer sobald unser Segel gesetzt ist. Doch der Fjord ist hier so eng und die Berge so hoch, dass ständig Böen aus allen Richtungen anfliegen. Flaute wechselt sich mit Starkwind ab – ein Hoch auf die Landabdeckung.

Doch bald schon verlassen wir diesen engen Teil des Mälaren und setzen Kurs Nord. Wir wollen nach Birka, einer kleinen Wikingersiedlung auf einer der dutzenden Inseln im Mälaren. Alles läuft, Ilvy rennt und wir fühlen uns wohl.

Wir legen mit Heckanker am schwimmenden Betonsteg von Birka an. Hier herrscht plötzlich ausgelassene Sommerstimmung: Es ist voll, alle baden oder grillen auf dem Steg, Kinder planschen im braun-grünen Wasser und es ist sogar Fruchteis am Start. Schön hier.

Wir wollen über die Insel schlendern, und landen mirnichtsdirnichts in einem Wikingermuseum. Spannend, was es hier alles früher so gab. Birka, heute ein kleines, verträumtes Inselchen mit vielleicht 20 Touristen, war früher anscheinend mal der Dreh- und Angelpunkt des Handels Ostschwedens. Man man man…

Liebevolle Modell-Landschaften im Museum.

Tolles kleines Museum, doch wir haben Hornissen im Hintern, denn draußen ist es doch Sommer und die Sonne grinst!

Uns erwartet auf einem ansehnlichen Areal ein kleines Wikingerdorf, das zurzeit sogar bewohnt ist. Zufälligerweise sind wir in eine Art Event geraten, in dem über mehrere Wochen echte Menschen in diesem Dorf wohnen. Sie kleiden sich wie damals die Wikinger, sie üben deren Arbeiten aus und sie erklären den Touristen was immer diese wissen wollen. Alles riecht nach Birkenteer und Hanfseilen, geräuchertem Fisch und lehmigen, frischen Töpferwaren.

Dazwischen freilaufende Hühne und akrobatische Ziegen, alte spirituelle Geisterschiffe und Schafe, Schafe, Schafe.

Kaum das Dorf hinter uns gelassen, spazieren wir über das ehemalige Siedlungsgelände der Wikinger. Heute ist davon nur noch der Hügel geblieben. Die Aussicht ist grandios, ebenso wie unsere Stimmung als wir am Wegesrand reife Kirschen entdecken.

Das schönste ist jedoch zu sehen, dass die Schweden all dies detailverliebt aufbauen, pflegen, unterhalten, für jedermann zugänglich machen – und sich dabei trotzdem nicht all zu ernst nehmen!

PS: Schütte, du wirst immer in unseren Herzen bleiben!

Glücklich fallen wir an diesem Abend in unsere wohlriechenden Seegras-Kojen, vollgepumpt bis unter die ersten grauen Haare mit lebhaften Eindrücken aus einem anderen Jahrtausend. Birka wird uns im Gedächtnis bleiben.

Hejdå, Birka!

Am nächsten Morgen wollen wir nach Stockholm. Die gute Stadt liegt im Osten von uns, und woher kommt der Wind!? Genau, aus Osten 🙂 Erst sind wir noch stur und wollen gegenan kreuzen. Machen wir auch ein paar Meilen lang. Doch irgendwann schauen wir uns an, beginnen zu begreifen, sehen. Der Geist der Gallier blitzt in unseren Augen auf, der Geist des Widerstands! Wir widersetzen uns! Dem Drang, unsere Pläne durchboxen zu müssen, unsere Ziele mit Gewalt erreichen zu wollen, uns der Natur zu widersetzen. Stattdessen lassen wir uns in die starken Arme des Windes sinken, vollziehen eine radikale Kehrtwende (nämlich um 180°) und setzen Kurs West. Plötzlich macht alles wieder Freude, Ilvy fliegt zügellos dem Horizont entgegen und bringt uns der Gelassenheit von Langfahrtsegelnden ein gutes Stück näher.

Wir peilen die Bucht von Gunnsvik an. Durch eine schlanke, lange Einfahrt geht’s hinein in die gut geschützte Bucht. Beim Autofahren geht man vom Gaspedal, wenn die Straßen enger werden, und so auch wir auf Ilvy mit ihrem Dschunkensegel: Gerefft auf nur ein Panel (natürlich ohne irgendwas am Kurs ändern zu müssen), und wir gleiten langsam durch die Enge. Einem uns entgegen motorenden Skipper einer 50-Fuß Najad Segeljacht fällt beim Zuschauen die Kinnlade runter. Check!

Kaum in der Bucht, lassen wir den Anker neben einem hübschen Trimaran fallen. Hier ist der Wind durch die umliegenden Wälder deutlich abgeschwächt, der Anker hällt sofort beim Einfahren, und die Drohne offenbart dann noch alte, gelbe Bekannte aus der Schlei: Rapsfelder.

Wer hätte gedacht, dass in Ostschweden der Raps erst Mitte Juli blüht? (wahrscheinlich jeder, der hier Landwirtschaft betreibt)

Wir wissen von der Use, dass sie heute auch in diese Bucht einlaufen will. Ich stalke ihre aktuelle Position über AIS, und lasse pünktlich zu ihrer Einfahrt in unsere Bucht die Drohne steigen. Es folgt ein gemeinsamer, gesprächiger Nachmittag im gepflegten Cockpit der Use.

Morgens klingelt unser Wecker ausnahmsweise mal wieder. Und dann auch noch ausnahmsweise früh. Heute soll es endlich nach Stockholm gehen. Wir wagen in dieser doch recht voll gewordenen Bucht ein Anker-Auf-Manöver unter Segeln, also komplett ohne Motorunterstützung. Dazu setzen wir nur drei Panele, und ziehen die Ankerleine hoch. Es offenbart sich ein Anblick, der hier in den Schären schon fast zum Alltag geworden ist: ein unnormal vermoddertes Ankergeschirr. Der Anker hält zwar so gut wie immer extrem gut (teilweise so gut dass wir ihn fast nicht mehr hoch bekommen), doch Deckschrubben im Vorschiffsbereich ist zur Routine geworden. Seht selbst:

An Bord der Use staunt man dann auch nicht schlecht, als wir so lautlos nen Tschechischen machen wollen.

Als wir elegant an ihnen vorbeigleiten, hören wir auch ihre Ankerkette rattern. Man will uns wohl einholen, und oh Gott, vielleicht sogar überholen!? Doch Thomas schreibt uns, dass man dort an Bord ein bisschen zu entspannt drauf ist um auch noch das zweite Segel zu setzen. So untertakelt ist die Use natürlich außer Konkurrenz für uns, und wir lassen sie den aufgewirbelten Schlick unseres Kielwassers schlucken. Wir bleiben den ganzen Tag über in Kontakt, und bekommen so mit, dass die Use trotz ihres nur einem gesetzten Segels es ernsthaft mit einem Dragonfly-Trimarans aufnehmen konnte. Diese Dinger sind sonst völlig irre schnell, und verschwinden schneller hinterm Horizont als man Blaubeermarmelade sagen kann… Was für ein Triumph, da mitgehalten zu haben!

Heute lassen wir mal die Use im Kielwasser.
Wenn umgestürzte, massive Fichten die Fahrrinne noch weiter verengen…

Der Wind ist heute nicht zu stark, und wir schaukeln gemütlich Richtung Stocki. Die Verpflegung stimmt, die Stimmung ist grandios. Was haben wir für ne Lust auf diese Metropole! Es mag verrückt klingen, doch endlich mal etwas Abwechslung zu der vielen Natur erscheint uns gerade sehr erstrebenswert. Beide fiebern wir auf etwas Stadtleben hin, und erkennen uns dabei manchmal selbst kaum wieder. Waren wir es nicht, die sich monatelang so sehr auf die atemberaubende Wildnis der schwedischen Ostschären gefreut haben? Was sollen jetzt diese aufkommenden Großstadtgelüste!? Es kommt wohl, wie bei allem, auf eines an: die Balance!

Während wir in die sich verengenden Fjorde Richtung Stocki einsegeln, flaut der Wind immer weiter ab. Trotzdem machen wir noch über 3 kn Fahrt. Plötzlich bekommen wir eine Nachricht von überraschender Seite: Die Liberty und die Somnia, zwei Yachten aus unserem Segelverein EWSK in Kiel, sehen uns von weitem. Wir treffen uns auf einen kurzen Schnack auf dem Wasser. Was für ein Zufall, dass rund 400 nm von zuhause unsere drei Jachten zufällig vor Stockholm zusammentreffen.

Die Liberty motort vorbei.
Auch die Somnia zieht von dannen.

Inzwischen hat der Wind soweit abgenommen, dass wir mit dem letzten Hauch gerade mal einen Knoten Fahrt machen. Für die Nichtsegler: das sind 2 km/h, also halbe Schrittgeschwindigkeit 🙂 Alle anderen haben ihre Segel schon längst unten und motoren geschwind Richtung Stockholm, um die Schleuse am Ausgang des Mälaren noch zu erwischen. Wir nicht. Wir lieben das Dümpeln.

Die ersten Stockholmer Villen mit Wassergrundstück kommen in Sicht.

Flaute, das ist nicht nur das Fehlen jeglicher Luftbewegung, sondern auch ein psychisches Phänomen. Es beginnt mit leichter Ungeduld, wenn das Schiff an Fahrt verliert. Irgendwas stimmt einfach nicht, man fühlt sich unbehaglich. Umso langsamer man wird, umso ungehaltener wird man. Ganz besonders, wenn Seegang und Wellen auch noch im Spiel sind. Da bricht schonmal das ein oder andere Gezanke sich Bahn. Doch das verfliegt schnell nach ein paar Minuten, wenn nur noch das leise Plätschern – und irgendwann nicht mal mehr das – zu hören ist. Man ergibt sich geistig in die Langsamkeit. Beobachtet nur noch lethargisch die Algen im Wasser, wie sie quälend langsam am Rumpf entlang strömen und, falls noch dieser letzte Fetzen Bewegung im Schiff ist, vom Kielwasser sanft verwirbelt werden. Irgendwann stirbt auch diese Bewegung und es tritt der Hirntod ein, zumindest gefühlt (dank unserer Dschunke ist das bisher noch nicht eingetreten, weil wir auch bei scheinbarer vollständiger Windstille noch gaaanz langsam vorwärts schieben)… Absolutes geistiges Nirvana, und die Sonne knallt erbarmungslos.

Wir bestaunen Villen über Villen, mit viel Zeit in der Flaute.

Doch dann kräuselt sich plötzlich das Wasser, man spürt einen Hauch von Luftzug im Gesicht. Die Nackenhaare stellen sich auf, fühlen, spüren, erhaschen. Dann etwas mehr Wind, das Segel fängt an sich auszubauchen. Das Gurgeln des Wassers am Ruderblatt kehrt wieder. Und plötzlich ist sie mit einem Schlag zurück, die pure, geballte Lebensfreude! Vergessen ist die psychische Folter der letzten Stunden, hallo Leben, hallo Wind, hallo „Segeln ist ja so geil“-Gefühl!!! Man trimmt die Schot, checkt den Kurs, genießt das Gefühlt von Bewegung. Und eh man es sich versieht, ist der Wind komplett zurück – und man selbst wieder im Segel-Rausch. Die Gischt spritzt, das Schiff krängt abenteuerlich auf die Backe und schießt vorwärts. Ein Wahnsinnsgefühl, diese Achterbahn.

Der Wind ist zurück, die Lebensfreude auch.

Wir segeln einen kurzen Abstecher zum Schloss von Drottningsholm, kreuzen die enge Zufahrt bis zum königlichen Anleger hoch. Schießen ein paar hübsche Fotos der seeseitigen Schlossfassade und düsen wieder ab. Man darf hier zwar ankern – aber nur tagsüber. Schade, wäre ein märchenhafter Liegeplatz gewesen. Aber auch so ist das hier gerade eine sehr einzigartige Segelstrecke.

Wir nehmen die nächste Bucht, direkt um die Ecke. Hier geht die Sonne genauso edel unter wie unterm Balkon vom König. Majestetische Aussicht, für einen Bruchteil des Budgets.

4 Kommentare

Das liest sich ja wie ein spannender Abenteuerroman 😍 Schade, dass die kleine „Bibliothek“ so weit weg ist, da hätte ich auch angebissen…
Weiterhin gute Fahrt und noch viele so schöne kleine & große Eindrücke!

OOhh, wie beneide ich Euch um jetzt in Stockholm zu sein (habe gerade einen Backenzahn gezogen bekommen…da ist wahrscheinlich alles besser…). Unbedingt ins „Wasa-Huset“, solange es noch geht! Zeit dafür einplanen…eines der erfolgreichsten Schiffe Schwedens. Auch wenn der Erfolg erst dreihundert Jahre später kam.
Oder wollt Ihr etwa ins ABBA-Museum? Nanana?

Hehehe, wir waren natürlich im Wasa Museum und nicht im ABBA-Museum 😛
Dieser Artikel ist ja schon zwei Wochen her, wir hinken mit dem Schreiben immer ein bisschen der Realität hinterher. Auf dem GPS-Track auf der Startseite siehst du unsere aktuelle Position, die stimmt tagesgenau.

Gute Besserung, Ingo!

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