Seit 1978 ist unsere Ilvy mit den dreieckigen, weißen Segeln eines Bermudarigs unterwegs gewesen – das sind bisher 46 Jahre. Man kennt das, von Kindesbeinen an: die typischen weißen Dreiecke auf einem Segelboot sind ganz normal.
Scheint ganz gut geklappt zu haben! Vorallem da beinahe alle Segelyachten, die man so auf dem Wasser sieht, genauso aussehen. Aber soll das alles gewesen sein, das Ende der Fahnenstange? Oder geht da noch was!?
Die mögliche Antwort auf diese Frage faszinierte mich nun schon seit über 8 Jahren. Ich hatte damals über das Buch „Voyaging on a Small Income“ von Annie Hill von einem offensichtlich deutlich attraktiveren Segeltyp gehört: dem Dschunkensegel! Dessen Silhouette kennt man vielleicht auch noch entfernt aus einem asiatischen Kontext.
Diesen Winter ’24 war es dann soweit: ich habe unser originales Rig heruntergerissen und ein eigenes, selbstgebautes Dschunkenrig installiert. („Rig“ beschreibt das gesamte „Segel-System“, bestehend nicht nur aus dem Segel, sondern auch aus Mast, Leinen, Bäume und Latten, etwaige Verstagung – also Drahtseile zum Halten des Masts, etc…). Das war ein ziemlich großes Bau-Projekt, ich glaube das größte meines bisherigen Lebens, und bedeutete einen massiven Eingriff in die Struktur unserer kleinen Ilvy. Vielleicht schreibe ich über diesen Prozess nochmal einen Bericht…
Hier geht’s nun aber in erster Linie um das…
Verständnis für das Dschunkenrig und dessen Vorteile.
Zunächst ein paar bauliche Unterschiede:
Unverstagter Mast.
Der Mast ist komplett freitragend, und benötigt keine Wanten und Stage zur Versteifung. Er ist durchs Deck gesteckt, und wird nur über das Fundament auf der Rumpfsohle und der Einspannung im Deck gehalten. Um diese Belastung auszuhalten, muss der Mast etwas anders aussehen: er ist komplett rund im Profil und stärker dimensioniert als der Bermuda-Mast. Außerdem steht er aufgrund der Segelgeometrie ein gutes Stück weiter vorne.
Wichtig: So ein unverstagter Mast darf sich biegen wie eine Eiche im Wind, und das macht er auch! Am Anfang gewöhnungsbedürftig, kommt es einem sehr schnell sehr vertraut vor.
Durchgelattetes, balanciertes Segel
Das Dschunkensegel führt am Mast vorbei und ragt vorne ein gutes Stück über. Diese Balancierung sorgt für deutlich geringere Kräfte auf der Schot (und viele andere Vorteile).
Die vielen „Latten“ bestehen aus Alurohren, die den allergrößten Teil des Winddrucks abfangen um ihn in Mast und Schot einzuleiten. Außerdem ist in Vor- und Achterliek ein 50 mm breiter Gurt eingenäht. Durch diese Merkmale muss das Segeltuch deutlich weniger Kräfte aufnehmen als beim Bermudarig. Die daraus folgenden Vorteile gibt’s weiter unten!
Unser Dschunkensegel habe ich so dimensioniert, dass die Segelfläche der vom bisherigen Großsegel plus Genua gleicht (35 m²).
Das Segel bleibt immer auf der einen Seite des Mastes (bei uns Backbord), egal auf welchem Kurs. Das bedeutet, der Mast steht mal in Luv und mal in Lee des Segels. Entgegen aller Erwartungen sind davon keine Auswirkungen auf die Segeleigenschaften feststellbar.
… und dann gibt’s dann noch die vielen anderen Unterschiede. Aber das soll fürs Erste genügen.
Die Vorteile
Tja, wo fange ich da an… Ich zähle mal nur die Prägnantesten auf!
Einfaches, sicheres Reffen
Das Reffen eines Dschunkensegels ist kinderleicht, schnell, sicher und unkompliziert. Dies war der ursprünglich für mich ausschlaggebende Grund, Ilvy ein Dschunkenrig zu verpassen.
Man fiert einfach nur das Fall, und das Segel kommt allein aufgrund seines Eigengewichts herunter. Das Fall fiert man soweit, bis die gewünschte Anzahl der Segelpanele in den Lazy-Jacks versunken ist. Dann setzt man es wieder fest. Trimmleinen nachziehen. Fertig!
Das Segel wird dabei nie aktiv nach unten weggespannt. Es wird immer nur durch sein Eigengewicht nach unten gezogen.
Ganz wichtig und besonders praktisch: Wir reffen auf jedem Kurs! Amwind, Halbwind, Raumwind, Vorwind. Ohne in den Wind schießen zu müssen. Selbst ohne groß Geschwindigkeit zu verlieren beim Reffvorgang. Einfach nur denken: „Okay, ich hab Bock zu reffen“, Kurs beibehalten, Fall lösen, Fall fieren, Fall festsetzen, fertig, Grinsen.
Kein gefährliches Herumturnen am Mast, keine schlagenden Segel, kein Verlassen des Cockpits, keine Gefahr, kein Stress. Wir reffen so wie man im Auto das Gaspedal bedient, ohne groß nachzudenken, ohne eine „Aktion“ draus zu machen. Reffen wird zur Nebensache!
Simple, sichere, günstige Technik
Ich habe den gesamten Umbau selbst gemacht, inklusive Nähen des Segels und Laminierarbeiten an Rumpf und Deck. Alles keine Raketenwissenschaft und gut machbar, wenn man nicht gerade zwei linke Hände hat. An Werkzeug hatte ich nur das Übliche, was man so im Keller hat, als Nähmaschine hat’s eine 50€ Gebrauchte von Ebay-Kleinanzeigen getan.
Die gesamten Materialkosten, inkl. Segeltuch, Latten, Mast, Laminierbedarf, Kleinteile, etc…, belaufen sich auf etwa die Hälfte dessen, was ein komplett neuer Segelsatz gekostet hätte. Da Ilvy’s Segel eh fast alle durch waren, halte ich das für einen ganz guten Deal.
Die Technik am Rig besteht aus Leinen, Gurten und Knoten. Alles selbst vernäht oder geknotet. Ich kenne mein Rig nun in- und auswendig. Das komplexeste Zukaufteil waren kugelgelagerte Blöcke für das Fall. Mehr ist da wirklich nicht…
Dazu kommt, dass durch die Geometrie des Rigs die auftretenden Kräfte viel besser verteilt werden: das Segeltuch nimmt viel weniger Last auf, stattdessen übernehmen dies die vernähten Gurte und die vielen Latten. Bedeutet: man muss kein steifes, teures Segeltuch benutzen, sondern kommt mit leichteren, günstigeren, UV-beständigeren Tüchern aus. Bei uns habe ich wetterfesten Markisenstoff verwendet. Laut Spezifikation absolut UV-resistent.
Und, ganz wichtig: der unverstagte Mast ist ein enormes Sicherheits-Plus. Man mag als alteingesessener Segler vielleicht im ersten Moment denken: „Ach du heiliger Bimmbamm, wie soll das denn halten, wenn da keine Wanten und Stage dran sind??“ Naja, dieser Mast muss natürlich ordentlich ausgelegt und berechnet werden. Dann ist das easy. Selbst die Megayachten Sailingyacht A, Maltese Falcon und Black Pearl fahren mit gigantischen, unverstagten Masten durch die Gegend. Der große Sicherheitsvorteil resultiert daraus, dass es nur noch zwei Versagensquellen gibt: die Einspannungen im Rumpf und Deck. Im Vergleich dazu weist ein Bermudarig eine ganze Fülle von Versagensquellen auf: Es muss nur einer der Dutzenden Sicherungsringe der Terminalbolzen herausfallen, nur einer dieser Bolzen brechen, nur ein Terminal versagen, nur ein Seil der mindestens (!) 6 oder mehr Stahlseile brechen, nur eine Saling wegknicken, nur ein Mastbeschlag ausreißen… und der Mast kommt!
Plus: durch den biegsamen Mast werden Lastspitzen gemindert. Bevor eine Böe an Rig, Rumpf oder sonstigem zerren kann, biegt sich der Mast weg, und öffnet dadurch den Segelkopf. Die Energie der Böe verteilt sich größtenteils im Biegewiderstand des Mastes. Man kennt es vom Windsurfen, Opti oder Laser.
Wirklich simpel, wirklich failsafe, wirklich günstig, wirklich am Ar*** der Heide einfach und schnell zu reparieren. Perfekt für Törns in entlegene Winkel.
Leise, schnelle, unkomplizierte Wenden
Mit nur noch einem Segel und einer einzigen (Groß-)Schot, braucht es keinen Vorschoter mehr. Zum Wenden, einfach Pinne legen, Segel kommt über, weiter geht’s. Tatsächlich kommt es bei uns vor, dass die Person, die sonst den Vorschoter gespielt hätte, während eines solchen Harakiri-Kreuzkurses wie rechts zu sehen gemütlich Kaffee trinkt, strickt oder aus Walter Moers vorliest.
Abgesehen von dem deutlich geringeren Arbeitsaufwand beim Wenden und Kreuzen kommt noch ein weiterer, eindrucksvoller Vorteil hinzu: Es ist flüsterleise während der Wende! Hier schlägt kein Groß in der steifen Brise, hier schleift keine Genua über die Wanten und knallt auf die andere Seite. Man hört einfach… nichts. Erst ist das recht ungewohnt, man hat das Gefühl dass irgendetwas fehlt. Doch dann merkt man erst, wie viel Stress das laute Schlagen der killenden Bermudasegeln zuvor ausgelöst hat.
Wenden wird zur Nebensache – wie eigentlich vieles zur Nebensache wird mit dem Dschunkensegel… Was bleibt, ist die pure Freude!
Weiteres Plus: Ilvy springt sofort nach der Wende wieder an, da man nicht warten muss bis der Vorschoter das Vorsegel möglichst schnell erneut dicht gewinscht hat. Es geht einfach sofort auf dem neuen Kurs weiter. Das macht gerade das Heraufkreuzen in sehr engem Fahrwasser, in Flüssen oder in Kanälen zum Selbstläufer.
Verdammt schnell
Jawohl, das sind wir geworden!
Amwind mit 90° Wendewinkel erreichen wir viel früher als mit unserem alten Bermudarig unsere Rumpfgeschwindigkeit von 6,3 kn. Bei Halbwind sowieso. Aber so richtig krass wird’s bei Raumwind- und Vorwind-Kursen. Da wir nur noch ein Segel haben, deckt bei raumen Kursen das Großsegel nicht mehr das Vorsegel ab, und die gesamte, geballte Segelfläche prügelt Ilvy nach vorne. Vor dem Wind genauso. Und: wir haben Null Aufwand die volle Segelfläche an den Wind zu bringen. Kein Ausbaumen des Vorsegels, kein wackeliges Schmetterlingssegeln, kein Bullenstander am Groß. Die fehlenden Wanten erlauben einen Öffnungswinkel des Dschunkensegels von 90° (oder auch mehr), sodass alles, wirklich alles, an Tuch vom Wind erfasst werden kann. Das fetzt!
Bisher fehlt uns noch der direkte Kopf-an-Kopf-Vergleich zu einer Bermuda-getaktelten Maxi 77, aber wir überholen (gerade bei wenig Wind, wenn die Rumpfgeschwindigkeiten nicht erreicht werden können) regelmäßig 2 – 4 m längere Yachten… Da fällt es einem schon schwer, beim Überholen nicht frech zu grinsen 😛
Bequemstes Segelfeeling
Die Sache mit den komfortablen Wenden hab ich ja schon erwähnt… Doch es kommt noch dicker! Der freitragende, unverstagte Mast sorgt dafür, dass die einfallenden Böjen abgepuffert werden. Er biegt sich einfach leicht weg, dadurch öffnet sich das Segel oben im Kopf und lässt die Böje durch. Ilvy nimmt trotzdem die Energie der Böje mit, und schießt vorwärts. Unten im Rumpf, im Boot, bei uns als Crew, kommt aber nur noch ein ganz kleines bisschen Böje an: Ilvy krängt wesentlich weniger.
Dazu kommt, dass der lange, flexible Mast als Schwingungstilger fungiert, und auch Stampf- und Rollbewegungen des Rumpfes in der Welle reduziert. Selbst beim Motoren ohne gesetztem Segel.
Alles in allem fühlt sich das Segeln auf unserer kleinen 25-füßigen Ilvy nun neuerdings an wie das Segeln auf einem 40-Füßer. Unglaublich ruhig und stäbig, dabei trotzdem flink und agil am Ruder.
Mehr Platz, weniger Arbeit
Da wir nur noch ein Segel fahren, dass immer am Mast angeschlagen bleibt, und auch sonst keine weiteren Segel mehr benötigen (wie z.B. Genua 1, Genua 2, Genua 3, Fock, Sturmfock, Spinnaker, Gennaker, Code Zero, etc…) entfällt auch der Stauraum für diese. Das macht richtig was aus unter Deck! Gerade auf einem so überschaubaren Boot wie unserer Ilvy mit ihren 25 ft. Es ist kein Stauraum unter Deck für irgendetwas Segelmäßiges mehr notwendig. Den Raum können wir nun für viele andere schöne Dinge nutzen: so ist auf unserer jetzigen Reise Platz für mein elektrisches Piano und Tonis Wollevorrat (ca. 1,0 m³) zum Stricken.
Und man wird faul. Wie auch nicht!? Es gibt ja nichts mehr zu tun: Segel fallen lassen in die Lazy-Jacks, anlegen, fertig. Kein Abschlagen des Vorsegels mehr, kein Segelfalten und ordentlich zusammenbinden, keine Baum-Persenning aufziehen, nichts, gar nichts mehr. Einfach deshalb, weil das Segelbündel sehr sicher in den Lazys liegt, und durch sein Eigengewicht niemals wegfliegen kann. Und da es aus absolut UV-festem Markisenstoff statt UV-anfälligem Segelstoff genäht ist, benötigt es keine Persenning mehr. Zack!
Farbenfroh
Neben den dutzenden von weiteren Vorteilen, für die in dieser Aufzählung kein Platz mehr ist, mag dieser Vorteil vielleicht banal klingen… Aber völlig frei in der farblichen Gestaltung zu sein, hat schon was! Wir haben uns für dieses wunderschön-warme Sonnenblumengelb entschieden. Der Himmel und die schwedische Natur danken es uns mit herzerweichenden Farb-Kontrasten.
Falls dir das Thema Dschunken-Segel gefällt, dann schau doch mal bei der Junk Rig Association vorbei. Auf der Website dieses internationalen Segelvereins findet man alles, was man zu diesem Thema noch lernen kann.
Ich bin mal gespannt was Du zu dem Cambered Sail und den Latten bei wirklich viel Wind sagst. Wenn zum Profil noch ordentlich Lattenbiegung dazukommt. Arne K. und auch Sebastian Hentschel sind ziemlich überzeugt von dem Rigg. Ich bin ja eher skeptisch und habe bei Mantau lieber „flach genäht“ gewählt. Wahnsinnig schade das Du Gerd und Erika Schmidt mit Ihrer Dschunke „Dualis“ nicht mehr kennenlernen konntest – da ist ja alles aus Carbon…
Weiterhin viel Spaß und tolles Wetter!
Hi Ingo,
Auf die vielen verschiedenen Typen von Dschunkensegeln bin ich hier erstmal gar nicht eingegangen, es sollte eher eine Übersicht sein. Mich fasziniert das Split Junk Rig noch ganz besonders, ist einfach aerodynamisch konsequent zu Ende gedacht. Mal sehen, wann ich dafür Zeit finde 😉
F6 an der Kreuz und von achtern war bisher das dollste, dank dem grandiosen Sommer bisher. Lattenbiegung war schon deutlich zu sehen, besonders vorm Wind. Aber nicht so, dass ich Angst bekommen hätte! Vor Allem, da die oberen Latten, die ja länger stehen bleiben, aus dickerem Rohr gebaut sind.
Bisher bin ich total fasziniert vom cambered rig!
Danke, und alles Gut!
Es ist schon spannend, wie viele „Fachbegriffe“ aus der „Segelsprache“ im Text sind und man das als absolute Landratte trotzdem versteht; und wie viele Arten von Wind es gibt. Ich bleibe weiter neugierig auf alles was noch kommt.
Hi Regina,
Ich hab schon befürchtet, dass das als Nicht-Segler hart würde zu lesen 😀 Toll dass du dich durchgebissen hast! Viele Grüße, Paul
I very much applaud Paul for his great work. However, there is one little catch: one needs a decent rig design before going ahead cutting in canvas. Unless one has already made a couple junk sails, it is better to join the Junk Rig Association (JRA) and look what is there.(..my first home-designed junk sail was a big failure, for sure…). On JRA’s website you can find inspiration and knowledge about a few different styles of JR and how to design them.
Paul got a head start by simply making a 1:1 copy of a fully operational sail for a Kelt 8.50 in Stavanger. Since the Maxi 77 is a good deal smaller and lighter than the Kelt, that rig provides more horsepower per ton. I like that…
Keep tacking!
Thank you, and good point!
I wrote this article to give a simplified overview of what that yellowish thing on Ilvy is. Something to direct interested people to, who I met on the pier, if there is more interest than fits into a 2 min dialoque. I do absolutely understate the amount of thinking, planing and work which went into this; especially that all of this was only possible as it happened on the shoulders of giants – like you and other pioneers from the Junk Rig Association are.
Super Artikel und gute Beschreibung. Ich würde mich über einen Artikel zum technischen Teil und der Umsetzung freuen 😉
Gelb als Farbe wäre für mich zu gewagt. Bei unserem kleinen Törn in Dänemark haben wir für unsere große Fock gelbe Fockschoten verwendet und sind bei wenig Wind von den Fliegen regelrecht überfallen worden. Ich mag mir gar nicht vorstellen wie das bei leuchtend gelben Segeln ist …
Danke für die tolle Berichterstattung und auch eure tollen Drohnenvideos!
Hi Alex, vielen lieben Dank 🙂
Sobald wir die vielen noch fehlenden Artikel nachgeholt haben, schreibe ich hoffentlich auch noch den Artikel zur technischen Umsetzung!
Wir sind tatsächlich öfter schon gewarnt worden vor der gelben Fliegen-Gefahr. Aber es geht bei uns echt klar. Sicher, die eine oder andere Fliege sitzt manchmal drauf, aber es ist kaum bemerkenswert… Vielleicht haben wir zufällig einen glücklichen Gelbton erwischt?