Glymur (oder so)

Guten Morgen!

Ich sitze gerade in der Lobby des Hostels und genieße das Gefühl der völligen Erschöpfung 🙂 Heute steht nur der Trip zur Farm an. Eigentlich könnte ich mir deswegen noch was anderes anschauen, doch was soll der Stress? Nach dem Tag gestern mach ich ganz entspannt, wir sind ja hier nicht auf der Flucht.

Gestern. Was für ein Tag! Schon beim Aufwachen dachte ich: Toller Tag, ich liebe mein Leben. Und ich war mega aufgeregt, zum ersten Mal trampen…

Bin mit dem Tagesrucksack ganz entspannt nach einem guten Frühstück (mit flüssiger Nutella) ne halbe Stunde zur nächsten Tankstelle an der großen Isländischen Ringstraße gelaufen (A1). Auf dem Weg dorthin habe ich schonmal probeweise den Daumen rausgehalten. Doch das war in der Stadt, die meisten haben mich völlig entgeistert angestarrt… und sind natürlich weitergefahren 😀 Kleiner Dämpfer, aber was soll’s. Na denn, auf den Stein an der Auffahrt hinter der Tankstelle gesetzt und den Daumen hoch. Nettes Grinsen im Gesicht. Dachte mir, ich setz mich extra, sonst erschrecken sich die Leute nur vor mir 😀 Super viele Leute haben mir nett zugewunken und auch einen Daumen nach oben gezeigt, aber keiner hat angehalten. Ich hab dann erstmal gegoogelt ob man zum Trampen in Island wirklich den Daumen raushält! Ja, tut man. Mist. Ach naja, meine kluge Freundin sagt ich sei zu ungeduldig. Das wirds sein. Ich sitze ja auch erst 10 Minuten. Und dann passiert das unfassbare, nach einer viertel Stunde. Ein Typ hält in seinem Minijeep an. Wo ich hin will? Entlang der A1 sag ich. Er: Steig erstmal ein, dann schauen wir. Nice!!! Eingestiegen, bedankt, geil, das ging schnell, sehr schnell! Joe ist etwa Mitte dreißig, schlacksig, von Kopf bis Fuß tättowiert und mega sympathisch. Er sagt er wohnt eigentlich um die Ecke, aber hat heute seinen freien Tag und nix zu tun. Wir fahren erstmal. Ich zeig ihm wo ich hin will, er sagt okay. Wow, krass. Wir reden über Deutschland, Nazis, die isländische Geschichte, dass er Amerikaner viel schlimmer als die Nazis findet. Hm. Er sagt er versteht nicht warum die Deutschen nicht lachen wenn er witzelt und sie Hitler nennt. Ich lache, und erkläre es ihm. Er sagt, trotzdem kann man doch lachen, es sei ja schließlich nicht die Generation von heute die was dafür kann was vor 70 Jahren passierte. Kein Franzose, Russe, Amerikaner, Engländer schäme sich so sehr wie die Deutschen für ihr Land, und alle haben keine Engels-Vergangenheit. Recht hat er irgendwie. Und Humor. Wenn ihn jemand als Nazi beschimpfen würde, würde er sagen: Nur am Wochenende 😀 Das ist er, der berühmte trockene isländische Humor. Gefällt mir. Wir reden über dies und das. Wir sind längst weit raus aus Reykjavik, ich komme kaum dazu die Fjorde und Berge zu bestaunen. Frage ihn, ob er die Schönheit um sich herum überhaupt noch wahrnimmt. Er sei hier aufgewachsen, und auf jeden einzelnen der Berge hochgekraxelt. Es sei wunderschön, und sein zuhause. My friend, das betont er ganz oft. Mit seinen mates war er schon überall. Haha, cooler Typ. Die Geschichte endet damit, dass er mich die ganzen 70 km zum Startpunkt meiner geplanten Wanderung fährt. Einfach so. Er musste dort nicht hin. Hatte einfach frei und nix zu tun. Das ist mein Glückstag, heute! Was für ein freundlicher Kerl. Ein bisschen neben sich stand er, fragte mich beim Aussteigen was ich denn nun mit meinem ganzen Kram auf der Rückbank mache? Da lagen haufenweise Taschen, Decken, Krimskrams. Ich sehe ihn entgeistert an: Mate, I only got my backpack with me. The stuff is yours, my friend. He looked surprised, looked back and said: Oh yeah, you’re right. I forgot. 😀 😀 😀

Danke Joe fürs Mitnehmen!

Er meinte noch: Oh, diese Straße hier ist aber ziemlich leer. Er hoffe dass ich hier abends weg komme. Nach diesem perfekten Start ins Tramperleben war ich mehr als zuversichtlich 🙂

So, dann die Wanderung. Es ging 4 km zu einem 190 m hohen Wasserfall. Es waren recht viele Leute unterwegs, also machte ich mir ganz schnell überhaupt keine Gedanken um den Rückweg mehr. Wird schon jemand Mitleid haben und mich mitnehmen. Die Schlucht war richtig grün, ein krasser Kontrast zu der kargen Wüsten- und Vulkanlandschaft ringsum. Aber Fotos sagen mehr als tausend Worte:

Darin war die Schlucht zum Wasserfall, von außen unscheinbar und kaum zu erkennen…

Doch es war unbeschreiblich schön. Majestätisch. Ehrfurcht einflößend. Auf einmal merke ich wie klein ich bin im Vergleich zur Gewalt der Natur. An so einem Platz könnte man gläubig werden. Unfassbar atemberaubend.

Ich setze mich auf einen Stein direkt an den Klippen, lasse die Beine baumeln, unter mir 190 m freier Fall und die Tiefe. Wunderschön. Sitze dort wo die meisten Touris sich nicht hin trauen. Die Blicke der Väter könnten töten, aber egal, ich genieße es hier vorne am Abgrund. Mache hier Pause und knabbere Käse und Polarbröt. Die Möwen kreisen hier wie Geier durch die Schlucht. Sie spielen mit dem Wind, das sieht so majestätisch aus. Sie haben eindeutig den Spaß ihres Lebens. Faszinierend wie sie im Aufwind schweben, und ihre Flugkünste vorführen. Man sieht ihnen ihre Lebensfreude an, den Spaß am Fliegen. Wie gerne würde ich mit ihnen schweben. Ich fühle mich an den Film Avatar erinnert, hoch oben in den schwebenden Bergen, mit den eleganten Flugechsen. Würde gerne auf eine Möwe steigen und mit ihr durch diese Grüne schlucht gleiten.

Dann entdecke ich die Nester der Möwen.

So, dann war ich auch schon oben angekommen. Hm, das war mir zu kurz. Ich will noch nicht zurück.

Oh, was ist denn das? Ein Gipfel am Horizont? Könnte ein Vulkan sein. Dort führt kein Weg hinauf, es liegen nur Lavaschutt und Felsen auf dem Weg dorthin. Geil, klettern. Hm hm hm. Alleine in die Wildnis, abseits der Wege, da war doch was… Sollte man nicht tun und so. Gefährlich und so. Aber das Wetter sieht gut aus, und der Besucherparkplatz ist noch voll. Und überhaupt, was muss das für ein Gefühl sein dort oben zu stehen. So… Don’t do this at home 😀 Natürlich musste ich da rauf!

Das war es wert! Ich würde es wieder tun.

Der Moment der Entscheidung. Da will ich rauf.

Drei Schritte bergauf stapfen, zwei Schritte mit dem Lavageröll zurück rutschen. Ganz kurz bekam ich Zweifel ob das hier so vernünftig ist…

Ein tolles Gefühl zu spüren, dass sich mein Körper an den Jakobsweg, Norwegen und Tasmanien erinnert. Das Herz pumpt wild, doch die Füße laufen einfach weiter. Ich liebe dieses Kraxeln mit Händen und Füßen, den Berg hinauf, über Hänge und an fetten Lavabrocken hinauf. Die Steine sind mega scharfkantig, die Schuhe finden überall Halt. Das ist meine Welt!

Und dann der Abstieg. Ich renne und rutsche mehr bergab als das ich laufe. Mountainsurfing. Es war übrigens leider kein Vulkan. Trotzdem majestätisch und respekteinflößend, in dieser uralten Ödnis zwischen den gewaltigen Gipfeln entlang zu stapfen. Odin war nicht weit…

Zurück am Parkplatz. Fast leer. Ach das wird schon 😛 Hab ja unterwegs genug Leute angelächelt, die werden sich an mich erinnern und mich mitnehmen. Haha, erinnert haben sie sich, aber die Autos waren alle übervoll. Die Hoffnung schwindet. Denke darüber nach wie es wohl ist hier zu erfrieren. Wenigstens ne schöne Kulisse. Schicke letzte Grüße an Toni.

Haha, so schlimm ist es nicht. Keine Sorge Mama 😀

Nach einer Stunde warten am einsamen Straßenrand und 20 vorbeigefahrenen Autos nimmt mich eine Polizistin mit zwei Kindern auf dem Rücksitz mit. Mega nett. Sie musste jedoch auf der Hälfte nach Reykjavik bei ihrem Bruder einen Kaffee trinken. Ich steige aus und versuche in der Zwischenzeit mein Glück. Sie will mich nach ihrem Bruderbesuch wieder einsammeln falls ich noch da stehe. Mega lieb von ihr!!!

Keiner hält an, ich bin zu ungeduldig. Telefoniere in der Zeit mit jemand ganz besonderem 🙂

Dann hält ein Auto mit drei Leuten in meinem Alter an. To Reykjavik? Yes, hop in, mate! Die drei sind Geologen, David ist Dozent hier an der Uni Reykjavik und kommt ursprünglich aus Österreich. Die anderen beiden sind ganz frisch hier und machen ein Praktikum. Wir unterhalten uns angeregt über ihre Arbeit hier, dann über meinen ehemaligen Job als akustischer Berater im Schiffsbau. David wird ganz hellhörig als ich von den Umweltprojekten und der Unterwasserakustik rede. Stellt viele Fragen, ist mega interessiert. Ich gebe ihm meine alte Visitenkarte, hatte noch eine dabei. Er fragt ob ich Lust hätte über die Unterwasserakustik einen Vortrag vor seinen Studenten in der Uni Reykjavik zu halten. Ich bin baff. Na klar, sage ich! Was für eine tolle Gelegenheit! Er sucht noch Stellen wohin er seine Masteranden vermitteln könne. Ich sage ich bin ja noch drei Monate hier, da finden wir eine Gelegenheit. Er ist begeistert!!! Bettina, Flo, falls ihr das lest, könnt ihr schonmal Thomas fragen ob er mir eine Präsentation von uns schicken kann zum Thema Unterwasserakustik (falls ihm das Recht ist). Und ob Dietrich Interesse an Masterstudenten aus Island hat.
Unglaublich was ich durch nur zweimal trampen schon erlebt habe. Auch David fährt mich bis fast vor die Haustür, wünscht mir alles Gute und versichert, dass er sich wegen dem Vortrag in den nächsten Wochen melden wird. Wir haben beide glänzende Augen!

Und dann ist dieser unglaubliche Tag auch schon so gut wie vorbei. Das Heimweh ist teilweise weggepustet. Natürlich wäre es um einiges schöner das hier alles mit jemandem zu teilen, am liebsten mit Toni. Doch das kommt noch 🙂

Und jetzt, heute, verlasse ich dieses schöne Hostel mit angrenzendem Park im Herzen von Reykjavik, hit the road again und freue mich schon mega mega mega auf mein neues Zuhause für die nächsten drei Monate!