Es ist Freitag der 21.Juni 2024. Lasset die Midsommarspiele beginnen!
Für die Schwedinnen und Schweden kommt Midsommar in seiner Bedeutungsschwere gleich nach Weihnachten. Es gibt bestimmte Rituale, Lebensmittel und Abläufe. Viele feiern mit ihrer Familie und/ oder Freunden. Es ist der inoffizielle Sommeranfang – und der Start in die Urlaubssaison.
Dank der Einladung von Hans und Danielle, zusammen mit ihrem Bootsclub zu feiern, sind wir mitten drin statt nur daneben! Danielle gibt uns den genauen Zeitplan durch: Alles ist getaktet und sie lässt durchblicken, dass sie auch ganz froh ist, wenn der „offizielle“ Teil vorbei ist. Wir hingegen können gar nicht genug davon kriegen.
10:30 Champagner auf dem Fels + Blumenkränze binden
Das Amusement startet mit einem Umtrunk auf dem Fels vor unseren Booten. Es gibt Champagner und Erdbeeren. Zum Glück hatten wir uns unser flüssiges Abschiedsgeschenk von Ines und Judith für einen besonderen Moment aufgespart. So konnten wir ein spaciges Getränk mit dem Namen Chardonnay ICE beisteuern.
Viele Schwedinnen knüpfen nun die traditionellen Blumenkränze fürs Haar. Einige haben Blumen gekauft, doch die meisten stromern durch den Wald und zaubern tolle Kränze aus Birkenzweigen und Wildblumen. Linja und ich wählen die Anfängerinnenvariante und flechten uns kleine Blüten ins Haar.
Da wir etwas verträumt in den Tag gestartet sind, unterbrechen wir hastig unser gemeinsames Frühstück an Bord um dann rechtzeitig auf dem Felsen zu sein. Doch nach einer eher kurzen Weile ereilt uns der Hunger und wir holen den Rest des Frühstücks auf den Felsen und futtern weiter. Ach du du liebes Bisschen, man glaubt es nicht, was das für eine Aufregung erzeugt. Viele der aufmerksamen Schweden sprechen Danielle an, ob wir denn jetzt schon Mittag essen würden!? Nicht, dass wir etwas falsch verstanden hätten bei der Tagesplanung! Mittagessen gibt’s erst später, jetzt nur Sekt und Erdbeeren. Da ist man ganz bedacht drauf. Nach kurzer Rücksprache mit uns kann Daniele alle beruhigen: dies sei nur das Restfrühstück. Puh, das war knapp! Midsommar-Ablauf erfolgreich bewahrt!
12:00 gemeinsames Mittagessen
Unser Frühstück ging dann doch irgendwie in das Mittagessen über. Wir sind halt noch Midsommar- Anfänger und -Anfängerinnen – auch was die Lebensmittelauswahl betrifft. Schnell schustern wir einen Nudelsalat für uns alle zusammen, dazu gibt es Kartoffeln, Kanelbullar und Southern Comfort. Eine wilde und leckere Mischung und so gar nicht midsommar-like. Etwas in Eile landen wir am Ende der langen Mittagstafel. Sie besteht aus den Campingtischen aller Boote hier am Stein, die mit kleinen Midsommarbäumchen und Blumensträußchen geschmückt sind.
Die Schwedinnen und Schweden essen Lachs mit leckeren Soßen, alle möglichen Varianten von Hering, kleine knackige Frühkartoffeln, und Erdbeeren. Dazu gibt es jede Menge Aquavit, viele Trinksprüche und jeder trägt mal ganz locker ein paar Zeilen Gesang vor. Auch wir haben einen vom Stapel gelassen. In Reih und Glied stehen wir da mit unserem Aquavit in der Hand und schmettern „von der Nordseeküste“. Bei den markanten 4 Musikschlägen hauen wir uns rhythmisch auf den Bauch. In einer Hand ist ja schließlich der Schnaps. Kichernd fragen wir uns, ob sie nun denken, dass in Deutschland so geklatscht würde, immer auf die Plautze.
Es fließt schon zum Mittag jede Menge Aquavit. Das Wetter ist traumhaft und die Sonne strahlt auf uns herab. Immer wieder gucken wir uns an und können nicht fassen wie unglaublich perfekt gerade alles ist und das wir Midsommar so erleben dürfen. Zeit zum Verarbeiten bleibt nicht, denn der nächste Tagesordnungspunkt wartet schon.
14:00 Rüber ins Dorf
Wir sammeln uns wieder auf dem Felsen um gemeinsam ins Dorf zu laufen. Von der Bucht sind es ungefähr 1,5 km bis ins kleine verträumte Dorf. Der kleine Schleichweg durch den Wald war vor zwei Tagen noch zugewuchert. Nun ist er gemäht und wartet auf uns Pilger und Pilgerinnen. Im Gänsemarsch schlängeln wir uns durch den Wald Richtung Dorf zur alten Schule.
Die „Folk Skola“ ist Dreh- und Angelpunkt des Midsommarspektakels auf Harstena. Als wir ankommen ist es noch angenehm leer und es gibt noch Schattenplätze (dank unserer klugen Insider). Der Midsommarbaum (ähnlich unserem Maibaum) liegt jetzt noch kahl und undekoriert vor dem Eingang des schönen Holzhauses.
Nach und nach füllt sich die Wiese und einige Schubkarren mit Birkenzweigen werden angekarrt und vor dem Haus abgeladen. Mit Kind und Kegel wird sich auf der Wiese platziert. Viele bringen die traditionelle Erdbeertorte und Kaffee direkt mit zur Wiese. Aber auch an Alkohol fehlt es nicht. Eine Gruppe baut sich sogar eine Tafel mit weißer Tischdecke und Champagnerkübel mit Eiswürfel auf. Was ist hier los??
Wir kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und ich fühle mich komplett reizüberflutet. Viele Schwedinnen haben tolle helle Kleider an und pompöse Blumenkränze auf dem Schopf. Die Kinder pesen barfuß über den Rasen und pusten Seifenblasen in die Luft. Willkommen in Bullerbü.
15:00 Midsommarfest
Dann geht es ans Baumschmücken. Hans und Danielle holen uns ran und zusammen mit anderen helfenden Händen wickeln wir die Birkenäste und -zweige eng um den Holzstamm. Die umstehenden Schweden und Schwedinnen scheinen es nicht bedauernswert zu finden, dass wir diese Aufgabe zu großen Anteilen übernehmen. Auch die Koordinatorinnen am Baum sind überrascht, dass so viele helfen und dabei gar nicht schwedisch sprechen. Sie freuen sich wahnsinnig über unsere Hilfe und fragen uns gleich über unsere Pläne aus. Die Schmückaufgabe scheint nicht so beliebt zu sein. Unsere anschließend von der Birke klebenden Hände könnten ein Indiz sein. Anyway, für uns war es ein großes Privileg und Freude mittendrin zu sein!
Nach dem Schmücken ist vor dem Stellen. Und auch wenn Lennart und Paul anderes behaupten würden, sie haben den Baum nicht allein aufgestellt. 😀
Nach einer kurzen Ansprache via Mikrofon kamen fünf Musizierende aus der Schule: Akkordeon, Geige, 2 Gitarren und eine dirigierende Sängerin mit Rasseln. Sie bildeten den innersten Kreis um den Baum und legten den Grundstein für die folgenden Tänze.
Es bildeten sich nun mehrere Menschenkreise um den Baum. Mal geordnet mal ungeordnet hielten sich alle an den Händen und dann ging die wilde Fahrt los. Mal links rum, mal rechts rum, mal nach vor und zurück. Wer hier schwedisch kann ist klar im Vorteil denn die Lieder und die Liedsängerin bestimmen was gemacht wird… und irgendwie geht es um Frösche, die komische Dinge tun. Wir versuchen niemanden zu rammen und einfach mit dem Flow zu gehen. Gar nicht so einfach, wenn es verschiedene Flowmeinungen gibt. Es ist Chaos, großes Chaos, und eine riesengroße Gaudi.
Nach viel Tanz und Kicherei verdrücken wir uns wieder in den Schatten. Es ist ziemlich heiß hier auf dem Platz. Nach und nach leert sich die Wiese. Das Spektakel ist vorbei und nun ziehen sich die meisten in ihre Boote, Gärten, Häuser und Familien zurück. Jetzt beginnt der legere, familiäre Freizeitpart des Tages. Baden, Faulenzen und noch mehr Erdbeertorte essen. Wir müssen auch erstmal durchatmen. Was für ein Erlebnis.
17:00 „Freizeit“
Wir steuern die kleine Bäckerei an und gucken, ob noch etwas Brot fürs Abendessen übrig ist. Die Bäckerei hat noch offen aber niemand ist mehr da (der Aquavit wirkt auf der gesamten Insel). Es liegt noch einiges in der Auslage, die Tiefkühltruhe ist voll mit Leckereien und die Pumpkanne voll mit Kaffee. Auf Vertrauensbasis bezahlt man bar oder mit Swish (ein schwedisches Bezahlsystem via App). Genial. Am Kiosk kaufen wir noch frischen Räucherlachs und Eis. Dann schlendern wir zum Boot zurück.
Dort angekommen machen wir erstmal Pause. Kurz Eindrücke verarbeiten, Durchatmen und natürlich Baden. Midsommar ist schließlich ein Marathon und kein Kurzstreckenlauf. Irgendwann finden wir uns wieder zusammen und haben ein gemeinsames fabulöses Abendessen auf Ilvy.
Unser großes Cockpit bewährt sich spätestens dann, als wir am späten Abend zu elft in diesem sitzen. Michelle, die Tochter von Hans und Danielle ist zu Besuch gekommen und hat drei Freunde mitgebracht. Alle rauf da auf die kleine Maxi. Plötzlich kriegen wir nasse Füße! Wir haben die Maximalfüllhöhe erreicht. Durch die Cockpitlenzer kommt Wasser ins Cockpit gelaufen, weil unser Heck so unverschämt tief im Wasser hängt. Gern hätte ich das von außen gesehen. Einige Insassen und Insassinen gucken uns panisch an, aber wir wissen, dass alles fein ist. Hans, Danielle und ihre zweite Tochter ziehen lieber ihr Dinghy vor und hängen sich von hinten an Ilvys Heck. Schnaps kriegen sie trotzdem gereicht.
Der Abend verfliegt wie im Fluge. Wir trinken das ein oder andere alkoholische Getränk und lachen viel, während die Sonne gar nicht daran denkt unterzugehen. So langsam wird Ilvys Cockpit leerer, das Wasser an den Füßen weniger und plötzlich sitzen nur noch Lennart, Linja, Paul und ich im Cockpit. Dies tut unserem Redeschwall aber keinen Abbruch und irgendwann stellen wir fest, dass es schon 1:30 Uhr ist. 8 Augen, 4 Blicke und die Sache war geritzt: Wir machen durch! Viel zu verlockend ist es die Sonne am längsten Tag des Jahres einfach wieder aufgehen zu sehen.
Eingemurmelt in Decken und ohne jede zusätzliche Lichtquelle spielen wir die ganze Nacht lang Räuber Rommé und schnacken. Wir sind bestimmt nicht die allerbesten Bootsnachbarn, da wir eine Menge Spaß haben. Zum Sonnenaufgang ließ Paul dann die Drohne steigen und obwohl unsere Augen schon winzig klein geworden waren, kamen wir aus den Ohs und Ahs garnicht mehr raus.
Gegen 6 Uhr morgens erwachen die ersten Mücken wieder und es wird nochmal eine Spur kälter. Wir verkriechen uns nach drinnen, setzen einen starken Kaffee auf und Frühstücken erstmal. Ich habe das Gefühl, dass wir Midsommar nun durchgespielt haben. Alles gesehen, alles erlebt, alles gefühlt.
Irgendwann wird auch Antonia wieder wach. Sie muss heute noch ans Festland und ihre Radtour fortsetzen, weshalb die Calando Blue mit dem todmüden Lennart und der aufgedrehten Linja schon um 9 Uhr ablegt Richtung Festland. Ich ziehe meinen Hut vor der Leistung, jetzt nach dieser Nacht noch ein Boot steuern zu können, während ich ihnen widerwillig bei den Leinen helfe. Paul und ich haben alles versucht. Das große Überzeugungsbesteck ausgepackt und alle Karten ausgespielt, aber es ließ sich leider nichts machen. Die drei müssen zurück ans Festland und Linja und Lennart weiter Richtung Süden, Richtung Deutschland. Es war zum Verzweifeln. Wir hätten noch ewig mit Ihnen im Gepäck rumfahren können und ich glaube, sie auch mit uns. Die Chemie stimmte einfach und wehmütig und mit schwerem Herzen verabschiedeten wir uns. Natürlich mit dem Versprechen uns bald gegenseitig zu besuchen, denn zum Glück wohnen wir alle bald wieder im Norden.
Und so blieben wir zurück auf Harstena mit dickem Liebeskummer. Der ging auch nicht weg nach einer ausgiebigen Mütze Schlaf. Als wir wieder aus dem Fenster schauten war die Bucht nahezu leer. ALLE hatten abgelegt oder sind gerade dabei – obwohl es erst Samstag war. Zugegeben, das Wetter war nicht so strahlend wie gestern, aber ein verlängertes Wochenende ist doch ein verlängertes Wochenende, oder!?
Aber so war genug Platz für unsere Wehmut und die Gedanken an diesen ganz besonderen gemeinsamen Tag. Wir sind uns sicher, das dies das Highlight unserer Reise ist und bleiben wird. Mehr Glück geht nicht.
Weil ihr so von eurer Reise schwärmt, habe ich mir im TV die Reportage „50 Gründe, Südschweden zu lieben“ angeschaut. Ein klitzekleines bißchen kann ich es nun nachvollziehen. Vor allem die Herzlichkeit der Menschen berührt. Weiterhin immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel.
Ohh. Bei soviel Wehmut am Ende bekomm ich Pipi in den Augen.
Die Vernunft sagt: man soll gehen wenn es am Schönsten
ist aber der Abschiedsschmerz meint: WARUM NUR???
Es warten bestimmt noch viele schöne Begegnungen auf euch 😉